An Orten wie diesem beginnen Hollywood-Filme: Die Anfangsszene zeigt die Erde aus dem Weltall, die
Raumstation ISS gleitet durchs Bild. Kurz fällt unser Blick auf eine der Außenantennen, dann zoomt die Kamera auf die Erde. Wir erkennen die Kontinente. Dort ist Europa. Oh, das da muss die Ostsee sein.Der Zoom fährt näher. Der
Greifswalder Bodden, eingerahmt von Rügen und Usedom und jenseits davon: eine grüne Insel. Ein Paukenschlag, Musik setzt ein, drei Buchstaben füllen das Bild: Oie.So heißt die winzige Insel. Genauer: Greifswalder
Oie. Sie ist 1550 Meter lang, 570 Meter breit und steht unter Naturschutz. Ohne Genehmigung darf sie niemand betreten. Gemeldete Einwohner: einer. Georg Rüppel, 29 Jahre alt, Ornithologe – und sozusagen der Robinson Vorpommerns.Auch interessant: Spektakulär und geheimnisvoll: Vorpommerns schönste kleine Inseln an der Ostsee
Er leitet die Biologische Station „
Walter Banzhaf“. Sie besteht aus einem alten Backsteinbau und ein paar Schuppen mit Hühnerstall. Hier werden Tausende Zugvögel jedes Jahr gefangen und beringt. Aber wozu?Vögel geben Auskunft über den Zustand der Umwelt
Auch das hat uns
Hollywood schon mehrfach erzählt: Wir sehen den Biologen in einem Schuppen voller Messgeräte. Er trägt Bart und Funktionskleidung – halb Holzfäller, halb Wissenschaftler. Nur der Computerbildschirm beleuchtet sein Gesicht.Plötzlich greift er zum Funkgerät und ruft: „Das müsst ihr euch ansehen!“ Schnitt. Eine kleine Gruppe umringt den Schreibtisch. Alle blicken auf den Monitor. Die
Kamera zeigt das Gesicht des Forschers. Seine Augen sind geweitet. Er sagt: „Ich hatte gehofft, wir hätten mehr Zeit.“ Schnitt.So könnte es ablaufen, wenn
Georg Rüppel eines Tages die langen Datenreihen auswertet, die auf der Insel in den vergangenen 27 Jahren gesammelt wurden. Doch so weit ist er noch nicht – die Vogelbeobachtung ist ein Langzeitprojekt.Der Biologe hat den Job erst vor wenigen Wochen angetreten. Schon vorher, noch ehrenamtlich, hatte er Auswertungen programmiert, um die Daten übersichtlich darstellen zu können. Trends seien dabei sichtbar geworden – etwa, dass einige Arten immer früher vorbeiziehen. Oder die Grasmücke statt nach
Afrika nur noch nach Großbritannien fliegt.Die Vögel sind Bioindikatoren. Sie gelangen an die entlegensten Orte der Erde und geben so Auskunft über den Zustand der Umwelt. „Im Winter, wenn es hier ruhiger ist, mach’ ich damit weiter. Es sind immerhin 313 Vogelarten, das ist ein ordentlicher Aufwand.“
Vögel mit Ring melden
Für eine Datensammlung zu Phänomenen in der Vogelwelt, ist das Erfassen der Sichtungen beringter Vögel notwendig. Solche Funde liefern Informationen, die etwa für die Beschreibung des Wanderverhaltens der Vögel sehr wichtig sind.
Sie haben einen beringten Vogel gefunden? Alle Ringe von gesichteten Vögeln, oder von Vögeln, die etwa im Straßenverkehr oder an Fensterscheiben zu Tode gekommenen sind, können an die Beringungszentrale
Hiddensee gemeldet werden. Online-Portal: ringmeldung.34u.deBeschwerliches Inselleben
Nun steht der Biologe mit Fernglas um den Hals am Inselhafen und empfängt seinen Gast. Die Touristenfähre aus
Freest war 90 Minuten unterwegs. Sie kommt im Sommer einmal am Tag und bleibt für zwei Stunden. Zu kurz, um festzustellen, wie sich das Inselleben anfühlt. Rüppel bietet an, den Schlafsack zu tragen.Es geht den einzigen befestigten Weg, vorbei an der Station der Seenotretter, hinauf zum alten Hotel „Inselhof“. Es wurde in den 1930er-Jahren geschlossen, als die Nazis hier mit ihren Raketentests begannen.
Seine beiden Vorgänger blieben vier und acht Jahre. Bemerkenswert, denn das Leben hier ist beschwerlich. Den Strom erzeugen eine Solaranlage und ein Generator. Das Handynetz funktioniert nicht, sobald viele Urlauber auf Rügen oder
Usedom sind. Das Wasser muss gefiltert werden, Einkäufe bringen die Helfer mit und im Winter bis in den Mai hinein kriecht Kälte durchs Haus.Vögel bestimmen den Tagesrhythmus
Doch jetzt im Spätsommer versprüht der „Inselhof“ den Charme vergangener Zeiten. Die Tür steht offen, im Eingang stapeln sich Schuhe, so als würde hier eine Großfamilie leben. Im Moment sind sieben Ornithologen und Helfer im Haus untergekommen. So einsam ist der Robinson der Greifswalder
Oie also gar nicht.Einen großen Teil der unteren Etage nehmen Esszimmer und Küche ein. „Wir essen immer zusammen“, sagt
Rüppel. „Jeden Tag um 7.30 Uhr, 12.30 Uhr und 19.30 Uhr. Zu den vollen Stunden holen wir die Vögel aus den Netzen, das gibt den Tagesrhythmus vor.“Die Zimmer sind äußerst einfach ausgestattet. Gemeinschaftswaschräume und Toiletten sind auf den Fluren.
Weil Sonntag ist, sind gerade alle unterwegs, um Wasservögel und Robben zu zählen. Ob es denn kein Wochenende gebe? „Nicht im Sommer“, sagt
Rüppel.Doch später wird klar, dass es auf der Insel nicht nur kein Wochenende gibt, es gibt von Frühjahr bis Spätherbst überhaupt keine Freizeit. Der Vogelzug, der Erhalt von Haus, Wegen und Zäunen, die riesige Schafherde, das Sammeln von Brennholz für den Ofen, das Verarbeiten von Lebensmitteln zur Versorgung im Winter, wenn die Fähre außer Betrieb ist – all das bestimmt das Leben.
Alle Abläufe sind standardisiert
Die Hauptaufgabe bis in den Oktober ist das Beringen. Dazu werden Vögel, die auf ihrem Herbstzug in den Süden auf der Insel rasten, mit Hilfe von filigranen Netzen gefangen – sogenannte Japannetze. Um 6 Uhr wird das erste Mal kontrolliert, um 21 Uhr das letzte Mal.
Behutsam werden sie aus den Maschen befreit, einzeln in Stoffbeutel gesteckt und darin zum Beringen getragen. Das machen alle im Wechsel. Das Vermessen übernimmt immer dieselbe Person für je eine Saison oder länger. Alle Abläufe sind standardisiert, sollen möglichst wenig voneinander abweichen.
Beim Abendessen ist es still, die Müdigkeit scheint greifbar – bis Jens ins Plaudern kommt und von seinem Einsatz als Helfer in einer Schweizer Beringungsstation berichtet. Er und Ingo kommen seit Jahren auf die
Oie, mehrmals im Jahr für eine Woche. Dann kümmern sie sich um die Schafe, leeren die Klärgrube oder beschneiden Bäume.In diesem Jahr haben sie einen Pavillon für den Gemüsegarten gleich neben dem Hühnerstall gebaut. So verbringen der Telekom-Techniker und der Gärtner ihre Urlaube. Auch
Rüppel hat Urlaubspläne: Er will helfen, Vögel in Israel zu beringen.Ziegenmelker zieht die Aufmerksamkeit
Plötzlich ertönt ein Ruf durch
Rüppels Funkgerät: „Wir haben einen Ziegenmelker.“ Unter den 227 Fängen des Tages waren 184 Fitisse, 15 Rotkehlchen, ein Gelbspötter, ein Sperber, ein Neuntöter und ein Steinschmätzer. Doch der nachtaktive Ziegenmelker zieht die Aufmerksamkeit aller auf sich. Schnell kommt die Gruppe im Beringerzimmer zusammen.Lars, einer der Freiwilligen, setzt einen Ring ums Bein des Tieres. Beringerin Lena wird beim Vermessen des Vogels immer wieder heftig angefaucht.
Georg Rüppel hilft beim Bestimmen von Geschlecht und Alter. Die Helfer Ingo und Jens bestätigen sich immer wieder im breitesten Sächsisch: „Herrlich!“ Und: „Schau mal, Ingo, vom Feinsten!“Praktikant Lasse tippt Ringnummer, Flügelmaß und Gewicht in den
Computer. Biologiestudentin Mirjam schaut bei all dem zu, um zu lernen. Schließlich ist klar: Der Ziegenmelker ist der 99., der in 27 Jahren auf der Oie beringt wurde – und es wird kurz überlegt, wie Nummer 100 gefeiert werden sollte.Es ist spät geworden, trotzdem werden jetzt noch die Beobachtungen des Tages zusammengetragen. Jeder gibt zu Protokoll, welche Vogelarten er gesehen hat. Um 22.30 Uhr steht fest: Es sind insgesamt 77.
Icarus-Projekt soll Verbreitung von Krankheiten voraussagen
Um sechs Uhr klingelt der Wecker. In der Ferne heulen die Kegelrobben. Mehr als 100 waren es am Vortag, die sich vor der Insel tummelten.
Mehr dazu: Kegelrobben zurück in der Ostsee: Bestand wächst weiter
Im Haus ist bereits Leben. Der 16-jährige Lasse hat sein Fernrohr auf der Schulter. Noch weiß er nicht, dass er um 11 Uhr einen Zwergschnäpper in den Händen halten und ein Selfie mit ihm machen wird. Im Garten überlegt Jens laut, ob er wohl jemals einen Goldhähnchen-Laubsänger sehen wird. Er nennt den Namen aber nicht, weil das Unglück bringt. Ingo traut sich deshalb nur Phylloscopus proregulus – den wissenschaftlichen Namen – herüberzuraunen.
Könnten die beiden jetzt schon auf Daten zugreifen, die die internationale
Raumstation ISS künftig mit einer ihrer Antennen auffangen wird, könnte Jens nachsehen, wo sich der Vogel gerade befindet. Doch dieses sogenannte Icarus-Projekt steht noch am Anfang.Ab Herbst wird den Vögeln auf der
Oie, beginnend mit den Amseln, ein Rucksack mit Sender aufgesetzt. Die Sender nehmen Kontakt mit der Weltraumstation auf und übermitteln ihre Daten. So lässt sich künftig die Ausbreitung von Infektionskrankheiten und vieles mehr voraussagen. „Vom Feinsten“, würde Ingo sagen und Hollywood fiele sicher eine Menge dazu ein.Die Arbeit des Vereins Jordsand
Der Verein
Jordsand wurde 1907 gegründet, mit dem Ziel sich für den See- und Küstenvogelschutz sowie für den Naturschutz an der Nord- und Ostseeküste zu engagieren. 20 Schutzgebiete werden von ihm betreut.Seit 1993 betreibt der Verein in Zusammenarbeit mit der Beringungszentrale
Hiddensee auf der Insel Oie Deutschlands fangstärkste Vogelberingungsstation.Rund 25 000 Vögel werden auf der Insel gefangen, beringt, vermessen und wieder freigelassen. Zusätzlich finden Zugplanbeobachtungen, Wasservogelzählungen und weitere Monitoringprogramme, wie Robbenzählungen statt. Außerdem betreut der Verein den Nothafen der Insel, in dem ein Seenotrettungskreuzer stationiert ist und bietet Führungen für Besucher an.
Die Arbeit des Vereins
Jordsand wird zu einem überwiegenden Teil durch Spenden finanziert. Zudem ist er auf die Mitarbeit von ehrenamtlichen Helfern angewiesen. Er bietet die Möglichkeit Praktika und Freiwilligendienste wie FÖJ, EVS oder BFD zu absolvieren.Kontakt: Verein
Jordsand zum Schutz der Seevögel und der Natur e. V., Bornkampsweg 35, 22926 Ahrensburg, Tel.: 04102 32656, Email: info@jordsand.de, Internet: www.jordsand.deSpendenkonto:
Sparkasse Holstein, IBAN: DE94 2135 2240 0090 0206 70Von
Juliane SchultzSeptember 06, 2020 at 03:00PM
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Greifwalder Oie: So lebt der Vogel-Forscher auf der einsamen Insel - Ostsee Zeitung
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